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Heimat als ein Dorf (s. Projekte)
Text der Performance in der St. Nikolaus-Kirche Kornhochheim; 03/2009

Briefsammlung (Auswahl, Grammatik und Rechtschreibung entsprechen den originalen, intuitiven Handschriften)


Liebes Dorf

Es ist wieder ein extrem heißer Tag heute. Ein Sommertag fast ohne Wind und Geräusche. Ich bin heute wieder in dir unterwegs – Gar nicht weit von dem Haus, in dem ich in dir schlafe. Das Neubaugebiet hier – ist irgendwie besonders spannend für mich. Ich weiß auch nicht warum. Es besteht aus lauter künstlich erscheinenden Wohn-Gehäusen. Jedes Haus strahlt nach außen eine seltsame Mischung von Individualität und Gleichförmigkeit aus. Kein Mensch ist zu sehen weit und breit. Bis auf den schwarzen Hund, die noch jungen hierher verpflanzten Bäume, den Rosen und ein paar Insekten ist überhaupt kein Leben zu sehen.
Ich sitze hier gerade am Spielplatz. Auch er ist vollkommen leer. Hier spielt nur der Wind und trägt mir den Klang deiner hellen Kirchturmglocke ins Ohr. Es ist Mittag.
Ich komme mir vor wie in einem Traum.
Ein bisschen wie in einer Ruinenanlage. So wie in Angkor. Nur in Kambodscha gab es überall Touristen. Hier ist niemand. Nur die Fahrer der Autos die das ferne Rauschen der Straße verursachen. Es ist ein schöner Platz. Von hier aus kann ich fast dein gesamtes Gebiet überblicken.
Ich frage mich ob es möglich ist allein an der Gestalt des Hauses, des Vorgartens oder auch des parkenden Autos auf die Interessen – oder sogar die Haltungen, Geschmäcker und Gefühle der Bewohner zu schließen. Jeder hier zieht sich scheinbar von allen anderen zurück. Nur in ihrer persönlichen Parzelle entfalten die Siedler ihre Individualität. In ihrem Garten, an ihrer Fassade, ihrer Garage. Das kann ich von außen sehen und überlege mir ob ich staune.
„Eigenheim“…
Dort hinten im deinem alten Kern erkenne ich auch ein tolles Fachwerkgehöft. Das werde ich mir auch mal näher ansehen.

Manchmal frage ich mich ob Menschen den Orten etwas von ihrer Stimme nehmen. Ihr Anblick ist mir zwar vertraut und zugehörig, doch erscheint mir ihre Anwesenheit manchmal als eine Art Ablenkung von dem was sie und mich umgibt.
Ich frage mich die ganze Zeit, was Heimat ist.

Der helle klang der Kirchturmglocke bimmelt erneut. Jetzt wo ich darüber nachdenke erscheint mir dieses Leuten als eine Art Puls von dir. Der Puls eines Dorfes, einer für mich noch entfernten Welt.

Viele Grüße
Sebastian


Liebes Dorf

Heute habe ich ein neues Geräusch in dir entdeckt. Und dazu noch einen wunderbaren Platz. Am Dorfplatz kann ich dem Wasser zuhören. Wenn ich am Brunnen sitze auf einer der kleinen Steinterrassen, fühlt sich das an wie in der Mitte. Dieser Platz war schon immer die Mitte von dir. Alle Häuser haben sich von hier aus ausgebreitet.
Das war wohl im Mittelalter so. Heute ist diese Struktur nicht mehr überall zu erkennen. Hier im Kern deiner alten gewachsenen Welt spüre ich dich am stärksten. Der helle Klang der Kirchturmglocken erklingt ganz nah – wie dein Pulsschlag. Ich bin heute sehr müde und irgendwie leer. Das Sitzen hier an deinem neuen Brunnen ist eine Ruhepause für mich. Hier kann ich mich etwas besinnen und entspannen. Ich frage mich – nein wundere mich – über den Gedanken, dass wahrscheinlich den ganzen Tag über niemand hier an diesem Brunnen gesessen hat. Niemand.
Das Habichtskraut mit seinen welken gelben Blüten, das verdorrte Gras und die weißen Dolden bilden ihren leisen Garten ganz für dich allein. Die stille dieses Ortes fühlt sich so präsent an, das ich fast glaube, dass du hier die ganze Zeit neben mir sitzt und zuschaust und nachdenkst. Ja, du schaust deinen Häusern, Bäumen, Spatzen, Menschen – ja sogar den kleinen Wellen auf dem Teich beim Dasein zu. Auch ein paar Autos kommen jetzt nach hause. Hmm…

Als ich vorhin von deiner großen Straße in die Kirchgasse einbog, kam ich wie immer an den großartigen Rosen am Gartenzaun von Nr. 25 vorbei. Diese Rosen sind eine wahre Pracht und schließen sich in ihrer Schönheit direkt an die wunderbaren Schwertlilien an, die dort im Mai ihre blauen Blühten öffneten. Doch diesmal wurde mir bewusst, dass die alte Scheune und das verborgene Haus von Nr. 25 schon lange leer stehen müssen. Gleich neben den Zetteln mit den Neuigkeiten hängt ein Maklerschild an der Scheunentür. Das Haus ist also unbewohnt. Ein seltsamer Schlaf hat sich über das alte Gemäuer gelegt und strahlt etwas Geheimnisvolles und Wehmütiges aus. Genauso wie der verwilderte Garten mit seinem wuchernden Holunder, seinen Birken und Gräsern, die alles, was einstmals von den Bewohnern in Ordnung gehalten wurde, was gepflegt und kultiviert worden war, einfach überwachsen. Es ist ein Ort der Abwesenheit –der Stille.
Doch in diesem Überwachsen spüre ich ein starkes, melancholisches Leben, das mich berührt, das mich glücklich macht. Ich weiß nicht warum, doch dieses alte, normalerweise übersehene, fast unsichtbare Haus in der Kirchgasse 25 ist etwas Wunderschönes. Ein Ort wo ich dich liebes Dorf sehr stark wahrnehmen kann. Ein Ort an dem mich deine verborgene Seele berührt. Einfach so.

Viele Grüße


Liebes Dorf

Heute ist schon wieder so ein heißer Tag. Es ist Sommer und das Rauschen der Autobahn ist zwischen dem Zirpen der Grashüpfer und dem rhythmischen Zwitschern der Vögel kaum zu hören. Es ist heute der zweite Spaziergang – der zweite Tag meiner Expedition durch meine fremde Heimat. Du bist heute wieder so menschenleer. Als ich durch die Siedlung lief, sah ich einen Mann seinen Gartenzaun streichen. Das Wohngebiet erscheint mir jedes Mal sehr seltsam. Es ist so eine Art künstliche Welt. Es ist der Teil von dir – der sich am stärksten von dem romantischen Begriff „Dorfleben“ unterscheidet. Doch diese Gedanken sind wohl nur meine eigenen.
Ich sitze auf einem der Baumstämme – einer Pappel, ganz grau und verwittert – die einige deiner Bewohner wie zu einer Art „Sitzgruppe“ arrangiert haben. Die Stelle dafür ist bemerkenswert. Sie bildet die untere Ecke einer Art Weide, welche das Wohngebiet nach unten hin abschließt. Nur glaube ich nicht, dass hier jemals Vieh zum Fressen gehalten werden wird. Trotzdem ist die gemähte, verdörrte Wiese von einem hölzernen Gatterzaun eingefasst. Das war wohl schon früher so.
Direkt daneben führt deine Hauptstraße aus dir hinaus in Richtung Neudietendorf. Regelmäßig kommen Autos und LKWs vorbei. Die Wenigsten halten in dir an. Sie wollen nur schnell zur Autobahn. Ob sie dich überhaupt bemerken? Oder ist es eher so, als ob sie entlang einer Kulisse fahren? So als ob die Häuser, Wege und Bäume nur dafür da wären das „Links und Rechts“ der Fahrbahn zu sein? Ist schon komisch…
Auf der anderen Straßenseite ist etwas Besonderes zu sehen. Jemand hat große, hellbraune Heugarben aufgestellt. Ob das Heu wirklich verfüttert wird? Sie stehen schon ziemlich lange dort und müssten doch schon längst angefangen haben zu verrotten? Aber sie sehen sehr schön aus. Wie Monumente, die mir eindeutig sagen „Hier ist ein Dorf“. So etwas kenne ich aus dem Fernsehen. Solche Bilder gehören zur heilen Welt.

Dort hinten sind die weißen Gebäude der „LPG“. Heute wird das wohl nicht mehr so genannt, doch als ich ein Kind war, gab es für solche großen “Bauernhöfe“ nur diesen Namen. Diese Häuser sind vollkommen anders, als der Rest von dir. Niemand bemüht sich darum sie für seinen Geschmack als „schön“ zu inszenieren. Daher werden sie wohl oft auch nicht wahrgenommen. Aber wenn ich so darüber nachdenke ist dies ziemlich eigenartig. Ein „Dorf“ ist doch in unserer Vorstellung immer noch ein Platz wo Bauern leben und arbeiten? Dort sind nun die Bauern – doch so richtig idyllisch sieht das nicht aus. Was möchte ich denn eigentlich sehen? Heugarben, Kühe auf der Weide, Fachwerkhäuser im Sonnenschein. Einen alten Traktor oder sogar ein Pferd… Schwalben. Jagende Schwalben im Sommer.

Von der LPG gibt es einen Pfad hinter den Gärten entlang - mit Kürbissen und hellrot leuchtenden Dahlien. Er führt direkt in das neue Wohngebiet. Von diesem Pfad aus kann man sehr gut deine gespaltene Welt beobachten. Hier die ländliche Idylle der Bauerngärten und verfallenden Fachwerkhäuser – dort drüben die neuen Einfamilienhäuser, die neu errichteten Existenzen der Zugezogenen. Du veränderst dich. Deine Funktion verändert sich. Doch Heimat bleibst du. Eben neue Heimat. Für jeden anders. Für mich heute ein Genuss vertrauter Fremdartigkeit – ein Genuss von Leere, Stille und Zurückgezogenheit.

Viele Grüße
Sebastian


Liebes Dorf

Endlich habe ich sie wieder gefunden. Sie ist mit Abstand dein ältester Bewohner glaube ich. Allerdings kennt sie nur einen kleinen Teil von dir – obwohl sie schon so lange in dir lebt. Dafür kennt sie das, was sie sieht so genau, dass sie jede Veränderung – jede, auch die für uns unsichtbaren – wahrnimmt. Jedoch hat sie in ihrem langen Leben vieles einfach hinnehmen müssen. Gerade jetzt, im hohen Alter ist sie ziemlich gezeichnet. Alles - alles, was dir liebes Dorf widerfahren ist, hat in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen. Niemand anders gehört so sehr zu dir wie sie.
Ich staune über die Alte. Ich rätsele über die geheimnisvollen Dinge in ihren Gedanken. Was mag sie wohl über uns neue Siedler denken? Was erwartet sie von uns? Erwartet sie überhaupt irgendetwas? Ich weiß nicht mal ob sie Kinder mag? Sie ist sehr schweigsam und bestimmt auch etwas wunderlich – wie alte Leute eben so sind. Allerdings sind Kinder oft in ihrer Nähe. Sie spielen Fußball und sie schaut ihnen unbemerkt dabei zu. Manchmal kommen sie auch zu ihr hinauf und tanzen ihr gackernd auf der Nase herum. Doch sie schweigt dann wie sie es immer getan hat und nimmt all ihr Gelächter und ihre Dummheiten geduldig hin. Sie ist eine weise Alte. Zumindest sehe ich sie als weise an. Sie selbst würde so etwas niemals behaupten. Aber seit ein paar Jahren ist sie nicht mehr so allein. Man hat ihr eine junge Gefährtin zur Seite gestellt die sie begleiten soll. Begleiten hinüber in das Reich der Erinnerung. Die Alte ist bald am Ende ihres Lebens angelangt. Sie wird sterben, wie alles einmal stirbt. Ihre Begleiterin wird dann für sie da sein. Sie wird die richtigen Worte finden, in einer Sprache die nur die beiden verstehen können. Und wenn die weise Alte dann verschwunden ist, wird sich der Wind an sie erinnern wenn er durch die Blätter ihrer jungen Gefährtin bläst. Doch noch lehne ich mich an die alte Linde. Auf der Sandsteinbank denke ich an dich.

Viele Grüße
Sebastian


Liebes Dorf

Es ist Nacht. Eine windige und frische Augustnacht. Die grauen Wolken ziehen über den schwarzen, von funkelnden Sternen übersäten Himmel. Eine Sternschnuppe rast in meinem Augenwinkel ins Nichts und verglüht. Es ist mein fünfter Spaziergang und heute nach einem langen Tag – an dem ich oft an dich und deinen verborgenen Zauber gedacht habe – tut mir dieses Laufen durch die nach Regen und Wind duftende Nachtwelt gut. Es ist schön mit dir zu sprechen. Gerade antwortet mir deine Kirchturmglocke.
Also nachts bist du mir schon ein bisschen unheimlich. Als ich eben vom Dorfplatz noch einen Abstecher zu Kirche machen wollte, lief mir beim finsteren Anblick der oberen Kirchgasse schon ein leiser Schauer über den Rücken. Ist schon verrückt. Eben haben ein paar Kinder zu dieser späten Stunde auf dem dunklen Dorfplatz rumgealbert – nur Kinder – aber dennoch gibt die Dunkelheit, der Schatten der Trauerweide, der Wind und die schnellen kühlen Sommerregenwolken diesem belanglosen, fröhlichen Moment etwas Intensives und Bedrohliches. In so etwas haben die Leute hier ganz früher bestimmt Spuk und Gespenster gesehen. Besonders als es noch keine Straßenlaternen gab, noch keinen Autobahnlärm und auch noch nicht die vielen Straßen, die dich mit den Städten verbinden.
Es ist dennoch irgendwie still heute Nacht. Eine wache – fast lauernde Stille, die mich schon etwas antreibt weiterzugehen.
Dein altes Brunnenhaus hat mich heute magisch angezogen. Und so sitze ich nun auf der kleinen, absteigenden Treppe und schreibe dir im Schein der gelben Leuchte - die Licht in den etwas gruseligen Brunnenschacht hinein wirft. So einen Brunnenschacht habe ich noch nie gesehen und auch nie in dir vermutet. Du bist voller Überraschungen. Eine Eule ruft.
Dieser Brunnen wirkt auf mich sehr alt und mittelalterlich. Vielleicht strahlt er gerade deshalb diese eigentümlich lebendige Faszination auf mich aus. Hmm…

Heute in einem Monat werde ich dich für längere Zeit verlassen. Heute in einem Monat sitze ich mit meiner Frau im Flugzeug nach Indien. Der Himalaya wartet auf uns.
Die Ferne lässt mich nicht los. Bald werde ich wieder auf weite Reise gehen. Ich brauche Berge – „Shangri-La“. Aber ich freue mich auf die Rückkehr.

Bis bald Sebastian


Liebes Dorf

Ich bin lange weg gewesen. Viele Wochen sind vergangen und auch der Sommer ist dem Herbst gewichen und nun hat auch der Winter seinen Höhepunkt überschritten. Du bist heute ganz weiß. Von knirschendem Schnee bedeckt. Es ist kalt und ich sitze auf der Treppe am Eingang der Kirche. Wenn ich in mich hinein fühle spüre ich, dass ich fern von dir bin. Als ich mich auf den Weg zu dir machte und durch den Schnee stapfte bemerkte ich wie wenig mir von dir in Erinnerung geblieben ist. Da war die lärmende Autobahn, die Laster auf der Hauptstraße – das nasskalte Rauschen ihrer Räder stößt mich heute ab. Geblieben ist deine seltsame Einsamkeit. Du bist noch immer wie im Traum versunken. Heute ein kalter, verschneiter Traum, der sich schneidend und hart in meine Gedanken einfriert. Heimat. Über dieses Wort habe ich viel nachgedacht. Wir waren im Himalaya-Gebirge unterwegs gewesen. Meine Seelenheimat. Von dort oben erscheinst du unbedeutend und fern. Ein Dorf wie unzählige andere. Anonym und ohne Namen – ja sogar ohne mich. Doch hatte ich auch Sehnsucht nach dir. Ich kann immer noch nicht sagen wer oder was du wirklich bist. Bist du mein zuhause?
Der eisige Wind bläst Schneeflocken über das hellbraune Holzgeländer.
Bist du mein Rückzugsort?
Sie heften sich an meine Kleider, nur um im nächsten Moment zu schmelzen und als dunkler Fleck in den fasern zu verschwinden. Was bist du? Ich fühle mich fern von dir…
Wie sehen es wohl die anderen? Die Bewohner, der Mann mit dem Hund vorhin in der Gau-Algesheimer-Straße, der Automechaniker oder die Postfrau? Stellen sie sich solche Fragen? Und wenn ja, was sind ihre Antworten? Kommt etwas über ihre Lippen? Oder versacken solche Gedanken tief im Inneren der Alltäglichkeit – so stumm und ungesehen wie die Schneeflocken auf meinen Kleidern?
Warum antwortest du nicht? Du schweigst wie der Schnee der alles mit Weiß und Winter bedeckt.
Ich frage dich…

Es ist nun schon ein Jahr her, dass ich zu dir gezogen bin. In dich hinein. Ich habe damals überhaupt nicht an dich gedacht. Wer macht sich schon Gedanken über ein Dorf – erscheinst du doch in unseren Menschenaugen eher als eine irgendwie zusammen hängende Ansammlung von Einzelheiten. Da sind Häuser. Da ist ein Kirchturm. Da ist die Hauptstraße. Der Lärm der Autobahn. Da sind auch Menschen. Doch meistens lassen sie sich nicht blicken. Ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht. So ist es und ich habe dabei an nichts Besonderes gedacht. Ist doch aber seltsam?

Auf meinen Spaziergängen kann ich dich sehen. Ich sehe dass, was meine begrenzte Perspektive von dir erkennt. Ich sehe nicht über Gartenzäune hinweg. Nicht hinter Fenster und Gardinen. Von der Welt innerhalb der Häuser weiß ich nichts. Ich stehe davor und kann nur vermuten.

Wie viele Dörfer es auf der Welt wohl geben mag? Unzählige Namen…
Doch nicht ein einziges ist wirklich zu verstehen.
Ich frage dich: wer bist du? Doch eine Antwort gibst du nicht…

Heute ist mir noch etwas Eigenartiges im Neubaugebiet aufgefallen. An vielen Häusern ist zwar eine Hausnummer angebracht, aber oftmals fehlt der Name der Bewohner am Briefkasten oder am Klingelschild. Nicht nur, dass es mir dadurch manchmal erschwert wird dir zu schreiben – zeigt es mir auch wie wichtig es scheinbar geworden ist anonym zu bleiben.

Die Bewohner investieren oft eine menge Zeit und Geld in die individuelle Gestaltung ihrer Häuser und Gärten. Jedes Detail scheint durchdacht, sogar die Hecken aus abwechselnd gepflanzten Tujas oder die Begrenzungszäune. Doch der Name an der Haustür fehlt…
Wie ein Maler der sein Bild nicht signiert – könnte man denken.
Aber warum nur? Ist es Angst? Angst entdeckt zu werden? Angst vor ungebetenem Besuch aus der Nachbarschaft? Wenn ich vor so einem Haus stehe fühle ich mich total ausgesperrt.
Ich habe lange in der Stadt gewohnt. Dort gab es so etwas nicht, da in den Wohnblöcken Klingelschilder absolut notwendig waren um nicht durcheinander zu kommen. Allerdings verbarg sich dahinter eine sehr abgegrenzte und anonyme Lebensweise – die mir hier im Neubaugebiet wieder begegnet. Es ist dieselbe Anonymität der Stadt. Die Leute haben die Stadt – der sie vielleicht entfliehen wollten als sie aufs „Land“ zogen – mit hierher gebracht. So entstand um den alten gewachsenen Dorfkern eine Art Satellitenstadt mit Bewohnern die untereinander wenig miteinander zu tun haben wollen. Letztendlich ist es egal wo ihre Häuser stehen. Es spielt keine Rolle, da sie sowieso nirgendwo dazugehören.


Liebes Dorf

Ich sitze etwa zwei Meter über dem Boden. Es ist immer noch Winter und pulvrig weißer Schnee hat alle Kanten verweht und abgerundet. Hier oben kann ich viel von dir sehen. Unter mir ist feiner weißer Sand. Es ist Spielsand. Überall entdecke ich Fußspuren darin. Gefrorene Fußspuren, die heute erstarrt und mit Schnee gefüllt eine große Verlassenheit ausstrahlen.
Die Kinder sind nicht da. Niemand scheint da zu sein.
Das Klettergerüst auf dem ich sitze hat die stilisierte Form einer Burg. Und wie auf einem verlassenen Burgturm in die Ferne spähend komme ich mir auch vor. Gegenüber ragt der Kirchturm als scharfe Silhouette mit einigen kahlen Baumkronen in den gleißend weißen Winterhimmel. Die Sonne blendet mich und ich kann nur für einen Moment lang hinsehen. Sie beginnt die kleinen Eiszapfen hier oben zu schmelzen. Dieses Jahr ist es ein richtiger Winter.
Ich frage mich ob mich deine Bewohner überhaupt bemerken? Sie werden sich vielleicht fragen warum ich ihnen deine Briefe schicke? Warum macht jemand so etwas?
Ich würde sie fragen – fragen warum sie genau die Dinge tun – die sie tun.
Aber eigentlich will es gar nicht wissen. Ich genieße es anonym zu sein – denn nur für mich allein – so wie hier auf dem Klettergerüst über dem Sandkasten schauen kann und mich frage, warum keine Kinder da sind.
Du bist ein Ort der in der Stille lebt.
Ein bisschen spüre ich noch die Leere der Felder, als hier noch keine Einfamilienhäuser gestanden haben. Viel hat sich an dieser Stimmung nicht geändert und auch meine Spuren im Sand dort ändern daran nichts. Ich glaube du wirst mir immer fremd sein. So wie alle Dinge die man nicht verstehen kann.
Du bist mein Zuhause.

Viele Grüße
Sebastian

Aufrichten und hinausgehen.


Neuer Tag

du hast gesagt ich glaube dir
und ich bin gelaufen um an dich zu glauben
gelaufen für dich sind Andere
Gedanken einer fernen warmen Welt
Gesichter voller Trost und Antwort die nach Wahrheit klingt
sie wartet dort auf dich
zitternd wie ein kleines Kind
Gespenster hab ich dir erzählt
Geschichten die dir dunkle Träume machen

jetzt bin ich fort und du bist hier
bist gelaufen um an dich zu glauben
gelaufen für mich sind Andere
die Erinnerung verglühter Sonnenstrahlen
und Wind der nach den nahen Zeiten schmeckt
sie wartet dort auf mich
kichernd wie ein kleines Kind
am Himmel hast du mit ihm gespielt
zwischen Sternen erwacht –
mein neuer Tag